Ilan Hartuv über Entebbe

Es folgt die Übersetzung eines Artikels aus der israelischen, eher palästinenserfreundlichenden Tageszeitung Haaretz von Yossi Melman, erschienen im Juli 2011 aus Anlass der Erinnerung an die Flugzeugentführung nach Entebbe 35 Jahre zuvor:

 

Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: Entebbe war nicht Auschwitz

 

Am Jahrestag der wagemutigen israelischen Aktion zur Befreiung der Geiseln aus dem nach Uganda entführten Air France-Flugzeug versucht die überlebende Geisel Ilan Hartuv Missverständnisse auszuräumen

 

Am 4. Juli war der 35. Jahrestag der „Operation Donnerschlag", dervon

israelischen Streitkräften unternommenen, sehr gewagten Aktion in

Entebbe (Uganda), um Geiseln zu befreien, die von palästinensischen und

deutschen Terroristen im Air France-Flug Nr. 139 gekidnappt worden

Ilan Hartuv, der einer derGeiseln gewesen ist, ergreift die Gelegenheit, um

einen weithin akzeptierten Mythos zu erschüttern, der ein besonderes

Ereignis bei dieser Entführung betrifft: die Behauptung näm lich, da 55 die

Entführer die Juden von den Nicht-Juden a auf eine Weise,

die an die Nazi-Selektionen in den Konzentrationslagern erinnert.

„Da ga b es keine Selektion der Juden: Entebbe war nicht Auschwitz", sagt

Hartuv in einem Interview mit unserer Zeitung.

Hartuv, 33, ehemals im Außenministerium beschäftigt, hatte auf dem

Flug seine Mutter, Dora Bloch, zu einem Familientreffen in Paris begleiten

wollen. Bloch — damals 73 Jahre alt — erkrankte während der Entführung

und war in ein Krankenhaus in Entebbe gebracht worden, als die

Befreiungsaktion stattfand. Sie wurde anschließend von Agenten des

ugandischen Machthabers Idi Amin zur Vergeltung fürdie Befreiungs-

aktion ermordet.

Der Air France-Airbu 5 war am 27. Juni von Tel Aviv nach Paris gestartet

mit ca. 260 Passagieren und der Crew. Der Flug führte über Athen, wo —

wegen der laxen Sicherheitskontrollen — vier Entführer an Bord gingen:

zwei Palästinenser, Jalil al-Arja und Abdel-Latif Abel-Razek-al-Samrai,

und zwei Deutsche, Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann. Nachdem die

Entführer die Kontrolle übernommen hatten, landete das Flugzeug erst im

libyschen Eenghasi und flog nach dem Auftanken (und der Befreiung einer

Geisel, einer israelisch-britischen Passagierin, die vorgab, dass ihr eine

Fehlgeburtdrohe) weiter nach Entebbe. Dort wurden die Kidnapper durch

weitere Terroristen und ugandische Soldaten unterstützt, die auf Befehl

Amins mit den Entführern zusammenarbeiteten.

Die Flugzeugentführer gehörten zu der von Jemen aus operierenden

Terrororganisation des Dr. Wadi Haddad. die sich von der PFLP (Volksfront

für die Befreiung von Palästina), geführtvon Dr. George Habash,

abgespalten hatte. Zwei Jahre später starb Haddad in der DDR,

vermutlich an Leukämie. Bis heute sind die Meinungen über den wahren

Grund seines Todes geteilt - entweder wa r es tatsächlich die Krankheit,

Oder Haddad hatte vergiftete belgische Schokolade gegessen, d ie ihm

angeblich vom Mossad (israelischer Geheimdienst; Anm. d. Aussteller)

geschickt worden war.

Neben dem Leben von Dora Bloch kostete die Befreiungsaktion die Leben

von Oberstleutnant Yonathan Netanjahu, dem Befehlshaber der Aktion,

von drei weiteren Geiseln, allen Entfihrern und 20 ugandischen Soldaten.

„Die Terroristen trennten die Israelis von den Nicht-Israelis" , sagt Hartuv,

einer der inofziellen Anführer der Geiseln und der offzielle Übersetzer

aus dem Englischen ins Hebräische bei den Gesprächen mit Amin, derdie

Geiseln mehrere Male besuchte. „Die Aufteilung fand statt aufgrund von

Essen und Personalpapieren. Esgab keine Selektion der Juden von den

Nicht-Juden."

Am dritten Tag der Flugzeugentfih rung forderten die Kidnapper alle

Israelis, unter Einschluss der Personen mit doppelter Staatsbürgæ

schaft (israelisch und ausländisch) auf, sich in der Transithalle des Flug-

hafens Entebbe zu versammeln. Sie wurden von den Besatzungs-

mitgliedern des Flugzeugs begleitet, a ngefüh rt vom französischen Piloten,

Michel Bacos. Der Rest der Passagiere, ohne israelische Fässe, wurde in

eine andere Halle gebracht. Wenig später wurden diese Passagiere

freigelassen und nach Paris ausgeflogen.

Besondere Aspekte und Quellen

5. Übersetzung des Haaretz-Artike15

von Yassi Melman (Jgll 2011)

„Wir sind nicht gegen Juden"

„Viele der befreiten Geiseln waren jüdisch" , erklärt Hartuv. „In den Gesprä-

Chen, die meine Freunde und ich mit einigen der Terroristen führten, erkläF

ten sie uns ausdrücklich: 'Wir sind nicht gegen die Juden, sondern nur

gegen Israel. Es ist wahr, dass die deutsche Terroristin sich wie ein Nazi

aufführte. Sie schrie und drohte immer wieder, uns zu töten. Aber einige

von ihren Freunden behandelten uns anders. Einer von diesen war derjeni-

ge, den wir den Peruaner' nannten (weil er Haddad5 Organisation in Süda-

merika vertrat)."

Hartuv erinnert sich, dass den Israelis zwei Ehepaare aus Belgien und den

USA sowie zwei Jugendliche aus Brasilien zugeordnet wurden, die ein

Studienja hr in Jerusalem a hatten. „Sie waren der israelischen

Gruppe zugeteilt worden, weil sie, als wir in Entebbe landeten, vor Morge-

nanbruchjüdische Gebetsriemen angelegt und Morgengebete gesprochen

hatten, Wir gingen aufden 'Peruaner' zu und baten ihn, die beiden doch zu

den anderen Passagieren zu bringen, da sie keine Israelis seien. Der

'Peruaner' wareinverstanden und brachte die beiden Brasilianer zu den

anderen Geiseln. Später wurden sie mitden andern nicht-israelischen

Geiseln freigelassen. Der Peruaner' entschuldigte sich, dass er die

beiden Ehepaare nicht freilassen könne, da die deutsche Terroristin das

nicht zulassen würde."

Hartuv erinnert sich an ein Gespräch zwischen einem anderen Anführer

der Geise n, Yitzhak David, und dem deutschen Terroristen Böse. David,

der bei der Befreiungsoperation verletzt wurde, war stellvertretender

Bürgermeister in Kiryat Bialik und Auschwitz-Überlebender. Er dokumen-

tierte seine Lebensgeschichte und seine Erfahrungen von Entebbein einem

hebräisch verfassten Bericht unterdem Titel „Ich entkam auch aus

Entebbe".

„Ich dachte, wir sollten bei der erstbesten Gelegenheit mit Böse spre-

Chen", sagt Hartuv, „wegen des letzten Satzes, den er während des Fluges

in einer Rede an uns gerichtet hatte. Böse sagte: Nun verstehen Sie, wie

da 5 Hirn eines verrückten deutschen Revolutionä rs tickt.

Hartuv setzt fort: „Wegen dieses Satzes hatte ich den Eindruck, dass

man mit Böse reden könne. Dagegen gab es keinen Ansatzpunkt3 mit der

Nazi-Terroristin zu sprechen. Als wir Entebbe erreicht hatten, ermunterte

ich David, der mittlerweile gestorben ist, mit Böse zu reden. David zeigte

Böse die eintätowierte Nummer aufseinem Arm und sagte zu ihm auf

Deutsch: Ich habe mich getäuscht, als ich meinen Kindern erzählt habe,

heute gebe es ein anderes Deutschland. Wenn ich sehe, was Sie und Ihre

Freunde hier Frauen, Kindern und alten Menschen antun, dann begreife ich,

da 55 sich in Deutschland gar nichts geändert hat.

Böse, der bis zu diesem Zeitpunkt ruhig und entschlossen gewesen war,

wurde bleich und zitterte. 'Da liegen Sie falsch' , antwortete er, 'ich habe

in Westdeutschland Terroranschläge verübt, weil die dortige Führungs-

schicht Nazis und Reaktionäre in ihren Dienst genommen hat. Ich weiß

außerdem, dass im September 1970 die Jordanier mehr Palästinenser

getötet haben als die Israelis, ebenso wie die Syrer in Tel al-Zaatar (eine

Schlacht im Jahr 1976, während des libanesischen Bürgerkriegs, in der

libanesische Christen und Syrer Palästinenser massakriert haben). Meine

Freunde und ich sind hier, um den Palästinensern zu helfen, weil diese die

Unterdrückten sind. Sie sind diejenigen, die leiden.' Yitzhak David antwor

tete darauf: Nun, wenn die Palästinenser ihr Versprechen wahr machen

und uns in 5 Meer treiben, werden wir auf Sie zukommen mit der Bitte, uns

bei der Entführung a rabischer Flugzeuge zu unterstützen.

Besondere Aspekte und Quellen

5. Übersetzung des Haaretz-Artike15

von Yassi Melman (Jgll 2011)

Hartuv glaubt, dass diese Unterha Itung einen tiefen Eindruck bei Böse

hinterließ, sein Mitleid mit den israelischen Geiseln erweckte und ihn

davon abh ielt, bei Beginn der israelischen Befreiu ngsaktion die Geiseln zu

erschießen. „Als der Schusswechsel begann, war Böse der einzige von den

Terroristen, der mit einer Kalashnikov in der Hand in unsere Halle kam. Er

richtete die Waffe auf uns, kam aber sofort wieder zur Vernunft und befahl

uns, in die Toiletten zu fliehen und dort Schutz zu suchen. Er schoss nicht

auf uns, sondern nur auf das Befreiungskommando. Als er in dem

Schusswechsel getötet worden war, sah ich, dass seine Kala shnikov gegen

die Soldaten gerichtet war."

Hartuv merkt an, dass zwei oder drei PLO-Vertreter in Entebbe ankamen.

Einer war Hani al-Hassan, der andere Khalid al-Sheikh aus Tul Karm; er war

PLO-Vertreter in Uganda und später Vertreter der palästinensischen

Behörden in Indien.

„Sie sagten, dass sie von Arafat geschickt worden seien, um Amin dazu zu

überreden, uns nichts anzutun" , erklärt Hartuv. „Ich weiß, dass Arafat

seine eigenen Gründe hatte, so zu handeln. Er hatte verstanden, dass

Haddads Terror der palästinensischen Sache schadete. Das sollte auch

gesagt und daran sollte der historischen Genauigkeit willen erinnert

werden."

(http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/setting-the-re-

cord-straight-entebbe-was-not-auschwitz-1.372151,

zuletzt aufgerufen am 14. Juli 2011)