Joschka Fischer und die linke Frankfurter Szene

Kurzvorstellung seiner Person

 

Joschka Fischer, wie Böse 1948 geboren, war eine der Galionsfiguren bei der Gründung und Etablierung der Partei der "Grünen" in der Bundesrepublik. Im Laufe seiner politischen Karriere in dieser Partei war er nicht nur eine wichtige Führungspersönlichkeit, sondern klarer Repräsentant des "realistischen" Flügels der Partei: Er wollte politische Verantwortung übernehmen und Politik gestalten und war dabei - stärker als der "fundamentalistische" Flügel - zu Kompromissen bereit. In Hessen wurde er erster grüner Landesminister;  von 1998-2005 bekleidete er in der rot-grünen Regierungskoalition unter Gerhard Schröder das Amt des deutschen Außenministers und Vizekanzlers. Er verkörpert den gelungenen, von vielen 68ern ab der Kanzlerschaft von Willi Brandt 1969 angekündigten "Marsch durch die Institutionen".


Für manche Linke der 70er Jahre - besonders aus der Frankfurter Szene, wo man Böse und Klein, aber auch Kuhlmann kannte - war die Entebbe-Entführung ein Wendepunkt in ihrem Verhältnis zu Gewalt und Extremismus. Auf diesen Aspekt beruft sich Joschka Fischer sehr stark, für den seine Abkehr vom Weg eines gewaltbereiten Rebellen also nicht schon 1969, sondern erst 1976 begonnen haben soll.

 

Fischer war damals, also 1976, 28 Jahre alt und gehörte führend zu den „Spontis" in der linken Frankfurter Szene. Seine politischen Motive und Ziele ähnelten denen von Wilfried Böse stark, mit dem es auch bezeugte konkrete Berührungspunkte (z.B. Druckerei Gaiganz; Hilfe für die ETA) gab. Zur RZ gehörte Fischer aber nie und stand ihr - innerhalb der weit aufgefächerten Frankfurter linken Szene - auch nicht sehr nahe. In der so genannten „Putzgruppe" hatte Fischer den Einsatz von Gewalt (körperliche Gewalt, wohl auch Knüppel, Steine?) bei Demonstrationen maßgeblich mit eingeübt und geriet in den Verdacht, bei einem Molotow-Anschlag auf ein Polizeiauto beteiligt gewesen zu sein  - dabei wurde ein Polizist äußerst schwer verletzt. Fischer bestreitet seine Beteiligung an diesem Molotow-Anschlag bis heute. Bevor dieser Vorfall vorsichtig in den Zusammenhang eingebettet und bewertet wird, soll hier zunächst Joschka Fischer selbst zu Wort kommen.

 

Joschka Fischers Aussagen zu Entebbe

 

Er hatte sich bis 1976 den "Genossen im Untergrund (... ) [gemeint sind die RAF-Terroristen; Anm. d. Verf.] eng verbunden" gefühlt. (Spiegel 2/2001, S. 34)

Nach Entebbe kommentierte er den Tod von Böse und Kuhlmann trocken: „Wenn sich Deutsche nochmaIs dafür hergeben, Juden von Nicht-Juden zu selektieren, dann verdienen sie es nicht anders. " (Siemens 345 nach Krause-Burger 115)

Fischer weiter: „Für mich war aber die Entebbe-Auseinandersetzung viel entscheidender [für seine endgültige Abwendung von Gewalt und politischem Radikalismus; Anm. d. Verf.], jene Entführung einer Air-France-Maschine auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris im Jahr 1976, bei der deutsche Terroristen die Passagiere in Juden und Nicht-Juden  'selektierten'. Ich fragte mich, wo führt das alles hin? Es war einfach nur entsetzlich! Wir erkannten allmählich, dass diejenigen, die mit der Abkehr von der Elterngeneration als Antifaschisten begonnen hatten, bei den Taten und der Sprache des Nationalsozialismus gelandet waren." (Spiegel 2/2001, S. 38)

„Du wirst selbst so wie der, den du bekämpfst." (Ebd.)

„Das Horror-Erlebnis - jenseits des Deutschen Herbstes - aber war die Entführung der Air-France nach Entebbe." (Ebd., S. 39)

Über Böse und Kuhlmann äußerte sich Fischer: „Sie standen am Rand der Szene. Böse kannte ich, Kuhlmann nicht. Die Tatsache, dass junge deutsche Linke jüdische von nichtjüdischen Passagieren „selektiert" haben, war für mich ein Abgrund." (Ebd.)


Edeltraud Fischer, seine damalige Frau, war unglaublich erschrocken über das, was in Entebbe passiert war: "Ich weiß noch, er hat sich dann plötzlich ganz von Aktionen abgewandt. Er hat sich in der Zeit mehr und mehr zurückgezogen. Aber das haben wir irgendwie alle." (Siemens 344)

Fischer selbst schrieb über die Zeit danach: „Nachdem die zehn Jahre Revolution beendet und die Illusionen geplatzt waren, habe ich mich von der Politik verabschiedet und bin Taxi gefahren. Da hab ich den homo sapiens (...) so kennen gelernt, wie er wirklich ist, in seiner ganzen Großartigkeit, Abgründigkeit, Erhabenheit, Gemeinheit, in seiner Normalität und auch darin, wie eng die Normalität oft am Ausgeflippten entlangläuft bei sogenannten Bürgern, wie viele tickende Zeitbomben, aber auch wie viele großartige Leute sich unter dem Deckmantel der Bürgerlichkeit verbergen. Das war für mich die Schule der Realität. Und vieles von dem, was ich heute als Politiker gebrauchen kann, habe ich damals gelernt." (Siemens 347 nach Krause-Burger 109 )

Zusammenfassend äußerte sich Fischer in seinem Aufsatz „Vorstoß in primitivere Zeiten" von 1977 über seine Zeit als „Sponti": „Es ist unser und mein dunkelstes Kapitel, ich weiß oder ahne es besser nur, weil ich da selber wahnsinnige Angst vor bestimmten Sachen in mir habe. Bartsch oder Honka [brutale, psychopathische Mörder, Anm. d. Verf.] sind Extremfälle, aber irgendwo hängt das als Typ in dir drin. Gerade im Zusammenhang mit der Militanz ist das öfters zum Ausdruck gekommen". (Spiegel 2/01, 8.1.2001, S. 35) Ein Fixpunkt von Fischers Handeln war von nun an: ein neues Auschwitz verhindern. (Vgl. ebd.)

 

Vorsichtige Einordnung

 

Sind diese Selbstaussagen Fischers glaubwürdig? Das soll ihnen nicht abgesprochen werden. Allerdings waren die Vorfälle in Entebbe für ihn auch eine "günstige" Gelegenheit, einen Wandel seines Verhaltens zu erklären, der vielleicht zum Teil anders motiviert war: Die schwere Verletzung eines Polizisten durch einen Molotow-Cocktail  geschah auf einer Frankfurter Demonstration gegen die angebliche Ermordung von Ulrike Meinhof in Stuttgart-Stammheim - tatsächlich hatte die Terroristin Selbstmord verübt. Diese Demonstration am 10. Mai 1976 hatte nur kurz vor Beginn der Entebbe-Entführung stattgefunden, und Fischer war durch die Frankfurter Polizei stark belastet - auch einige Mitglieder der Frankfurter linken Szene halten ihn heute noch für einen der Täter. War nicht so sehr Entebbe, sondern Fischers eigenes Verhalten Grund für sein heftiges Erschrecken über linke Radikalität im Sommer 1976? Möglicherweise kamen beide Faktoren zusammen.

 

Abgesehen davon: Die Beteiligung von Frankfurter Linken an Entebbe 1976 hat nicht nur Joschka Fischer, sondern auch Daniel Cohn-Bendit und weitere Frankfurter Linke dieser Zeit von außerhalb der RZ erschreckt und verstört. Einige von ihnen kümmerten sich jahrelang um den RZ-Aussteiger Hans Joachim Klein, der sich nicht nur vor Polizei und Justiz, sondern auch vor Racheakten der RZ versteckt hielt.