Böse bei der Entebbe-Entführung

Wilfried Böse war der Terrorist, der bei der Entführung zum Cockpit vordrang und die Piloten zum Kurswechsel zwang. Möglicherweise halfen ihm seine Segelflug-Kenntnisse dabei, zu überprüfen, ob die Crew seine Befehle auch befolgte.

Im Verlauf der Entführung verhielt er sich insofern für einen Entführer erwartungsgemäß, als er Geiseln nahm, sie bedrohte und unter Androhung von Waffengewalt klar machte, dass seinen Befehlen zu folgen war. Es bestand für die Geiseln - und es besteht heute - kein Zweifel daran, dass Böse die angedrohten Konsequenzen umgesetzt hätte: Die Entführer planten, nach Ablauf des Ultimatums an Israel und die anderen Staaten, aus denen Gefangene freigepresst werden sollten, die Geiseln nach und nach zu erschießen.

 

Trotz der Auschwitz-Parallele der Selektion, die Böse leitete, war es aber vornehmlich Brigitte Kuhlmann, deren Verhalten die Geiseln mit Nazi-Tätern in Verbindung brachten. Böse hingegen unterhielt sich offensichtlich recht gelassen und offen mit einigen Geiseln, diskutierte zeitweilig mit diesen und ließ sich dabei einiges für ihn Unangenehme sagen, ohne darauf heftig bzw. mit Gewalt zu reagieren. Dies bezeugt z.B. die Aussage Ilan Hartuvs, die im nächsten Kapitel (Besondere Kapitel/Übersetzung des Haaretz-Artikels) wiedergegeben wird.

 

An dieser Stelle sollen ausführlich zwei Tagebucheinträge wiedergegeben werden, in denen die Situation für die Geiseln nochmals deutlich wird sowie Böse und dessen Verhalten intensives Thema sind. Den ersten Eintrag hat Sara Davidson vorgenommen, die mit ihrem Mann Uzi und ihren Söhnen Roni (17 Jahre) und Benny (13 Jahre) zu den Geiseln gehörte: (Stevenson 149 - 154 ; Anm. d. Verf. in eckigen Klammern)


Uzi sieht mich an, und ich sehe Uzi an. Als ob wir uns verständigt hätten, sagten wir zu den Jungen: "Wir werden nicht sterben. Wir werden nach Hause fahren, nach Israel. Wir bleiben für immer zusammen."

Ich sagte "zusammen" und bekam plötzlich fürchterliche Angst ... man sagt etwas und begreift erst hinterher, wie wichtig dieses "zusammen" ist und welche Gefahren auf uns lauern, wenn wir getrennt werden und dieses "Zusammensein" zerstört ist.

Die ganze Familie verstand. Ohne ein Wort schmiegten wir uns aneinander, ganz wir selbst, und schützten uns gegenseitig. Uzi war wie der Kommandant einer kleinen Einheit. Er flüsterte: "Wenn sie die Männer von den Frauen trennen, bleibt ihr Jungen immer dicht bei Mutter, immer bei Mutter. Du, Ron, bist der ältere, du verstehst schon."

Meine kleinen Männer, Ron und Benny. Gestern waren sie noch meine kleinen Kinder.

Nicht jeder kann ruhig bleiben. Unsere Kinder sind ruhig und traurig. Aus verschiedenen Richtungen hörte ich hysterische Stimmen: >Sie werden uns töten, sie werden uns niedermetzeln. Sie warten nur darauf, uns abzuschlachten.<

Mit dem deutschen Entführer [Böse] hatte ich ein langes Gespräch. Ich fragte ihn: "Woher wussten Sie, dass der Pilot wirklich nach Bengasi flog, nachdem wir in Athen gestartet waren? Er hätte vortäuschen können, dass er Ihren Anweisungen folgte, tatsächlich aber in Lod [Israel] oder sonstwo landen können." Er schaute mich an, lächelte und sagte dann: "Ich habe dieses Fach in einigen arabischen Ländern gründlich studiert. Ich habe monatelang gelernt, wie man Karten und Instrumente liest. Ich wusste immer, wo das Flugzeug war."

Er schwieg und sagte dann: "Ihr Land ist schön, wirklich schön." Ich fragte: "Sind Sie dort gewesen?" Er antwortete nicht, anstelle einer Erwiderung lächelte er abermals. Ich sagte: "Vielleicht hätte ich Sie das nicht fragen sollen." Und er lächelte wieder.

Der deutsche >Kapitän< [Böse] verlas eine Erklärung: "Die Franzosen sind die Feinde der Araber. Sie haben Israel einen Atomreaktor geschenkt. Die Amerikaner sind Feinde der Araber. Sie haben Israel mit mörderischen Waffen versorgt. Aber der Hauptfeind ist Israel, sind die Israelis."

Nette Aussichten! Wir wurden, getrennt von den anderen, auf unser Schicksal vorbereitet. Der >Kapitän< [Böse] beruhigte uns: "Ihnen wird nichts geschehen. Die Geschichte der Entführungen beweist, dass wir die Passagiere nicht töten. Wir werden verhandeln. Wir stellen Forderungen. Wenn sie erfüllt werden, werden wir sie freilassen und Sie können nach Hause zurückkehren."

Das Klatschen bringt mich um. Es bringt mich zur Weißglut. Jedes Mal, wenn der >Kapitän< [Böse] spricht, - Klatschen. Jedes Mal, wenn Amin erscheint - stürmischer Applaus. Ich bin keine Heldin, aber ich würde alles tun, um Uzi und die Jungen zu retten. Was ich aber wirklich tun möchte, kann ich nicht tun, nämlich aufstehen und Idi Amin oder die Terroristen anbrüllen: >Ich halte Sie für den letzten Dreck! Ich bin Jüdin, ich bin Israeli!< Aber solange wir uns ein wenig menschliche und nationale Würde bewahren können - wo ist da der Punkt, an dem wir uns selber erniedrigen, indem wir sie mit Händeklatschen begrüßen? Wir müssen Amin gegenüber Respekt zeigen; denn wir sind in seiner Hand, und er kann unser Schicksal entscheiden. Respekt - gut. Aber kein Kriechen, nicht diese Selbsterniedrigung! Unter diesen Umständen scheint es schwer zu sein, die menschliche und jüdische Würde aufrecht zu erhalten. (...)


Sara Davidsons Mann Uzi notierte:

Der >Kapitän< [Böse] lächelte mich an. Ich nahm meinen Mut zusammen und ging auf ihn zu. Er war nicht nervös. Ich fragte, was aus unserm Gepäck geworden wäre.

Er erklärte mir, dass wir es von ihm aus haben könnten, aber die Koffer seien innerhalb des Flugzeuges in Spezialcontainern, und in Entebbe gäbe es keine Einrichtungen zur Entladung. Er sprach ganz freimütig. Ich dachte: Sollte ich aufhören? Weitermachen? Irgendetwas an ihm ermutigte mich, weiter zu reden. Ich sagte: "Wie können Sie uns unter solchen Bedingungen leben lassen, ohne Matratzen, ohne Decken, so zusammengepfercht?" Er holte ein Stück Papier und einen Kugelschreiber heraus und notierte sich meine Bitten: Matratzen, Decken, Seife und Waschpulver sowie gründliche Reinigung der Toiletten. Er versprach mir, sich darum zu kümmern. Aber hier hatte er nichts mehr zu sagen, nur in der Luft war er der Anführer gewesen. Hier waren die Araber die Bosse, und er hatte als Soldat ihren Befehlen zu gehorchen.

Der Mann weckte mein Interesse. Für mich hatte er etwas Geheimnisvolles. Von ihrem Standpunkt aus konnte ich die Palästinenser verstehen. Aber er, ein Deutscher, der den Eindruck eines wohlerzogenen und intelligenten jungen Mannes machte? Ich fragte ihn: "Warum sind Sie hier?" Er zögerte einen Augenblick und antwortete dann ausführlich. Er glaube an die Rechte des palästinensischen Volkes. Die Palästinenser seien ein unglückliches Volk, weil sie keine Heimat hätten. Er müsse ihnen helfen. Darum sei er hier, und er sei bereit, alles zu tun, um diesem unglücklichen Volk zu helfen.

Ich sagte: "Nehmen wir einmal an, dass Sie, die Volksfront [PFLP-SC] und alle anderen Feinde Israels in den arabischen Ländern oder sonstwo es schaffen, Israel zu zerstören, was Gott verhüten möge, und die überlebenden Juden würden wieder über die ganze Welt zerstreut - was würden Sie tun? Flugzeuge entführen, damit das jüdische Volk wieder in seine Heimat zurückkehren kann? Oder tun Sie das nur für die Palästinenser?"

Er sagte: "Ich stimme Ihnen zu, dass die Juden einen eigenen Staat haben sollten."

Ich sagte:" Sind Sie für die Existenz des Staates Israel?"

Er sagte: " Ja , gewiss. Aber entweder sollte ein palästinensischer Staat neben Ihrem gegründet werden oder Sie sollten mit den Palästinensern gemeinsam in einem Staat leben."

Ich sagte:" Das widerspricht dem Konzept der Leute, für die Sie arbeiten und für die Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen. Die sind nicht bereit, die Existenzberechtigung des Staates Israel anzuerkennen."

Er antwortete: " Ich bin nicht der Sprecher der Volksfront. Ich habe meine eigenen Ansichten. Haben Sie jemals gesehen, wie die Menschen in einem palästinensischen Flüchtlingslager leben? Haben Sie die Kinder gesehen?"

"Irgendwann", erwiderte ich, "wird man für das Nahostproblem eine Lösung finden. Der Krieg kann nicht endlos weitergehen. Was werden Sie dann machen? Wo gehören Sie hin?"

Er war fast beleidigt: "Ich bin Deutscher und liebe mein Vaterland. Aber nicht so, wie es jetzt ist. Ich wünsche mir ein anderes Deutschland. Ich lebe im Untergrund, bin ständig auf der Flucht. Die deutsche Polizei sucht mich überall. Ich weiß, dass mein Leben entweder mit einer Kugel im Kopf enden wird oder dass ich bald sterben werde ... Ich habe das Gefühl, dass ich bald sterben werde ... Es wird sehr schnell kommen."

Ich sagte: "Sie verschwenden sich , junger Mann. Sie sind hochintelligent. Wenn Sie etwas Nützliches studieren würden, könnten Sie der Menschheit weit besser dienen als mit Flugzeugentführungen. Sie haben sich in einem Netzwerk verstrickt, in dem Sie Ihre Kräfte sinnlos vergeuden."

Er rechtfertigte sich: "Ich habe eine Menge gelernt, obwohl ich noch jung bin."

"Mag sein", sagte ich. "Aber Sie vergeuden sich selber. Sie machen nicht den richtigen Gebrauch davon."

Er schwieg.

Ich sagte: "Mal ehrlich. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie hier mit erhobener Maschinenpistole vor Frauen und spielenden Kindern stehen? Wenn Sie uns bekämpfen müssen - wir haben doch Soldaten. Warum kämpfen Sie nicht gegen unsere Soldaten?"

Er senkte den Blick. "Glauben Sie mir, ich fühle mich miserabel, wenn ich Sie und Ihre Kinder vor mir sehe ..."

 

Direkt an diese Notizen anknüpfend zieht Uzi Davidson aus seinen Beobachtungen folgende Schlüsse:

Jahrelang konnte ich die Massenvernichtung der Juden nicht begreifen. (...) Warum gingen die Juden so willig in die Gaskammern? (...) Ich brauchte diesen Alptraum von Entebbe, um es zu fassen. Und jetzt, aber erst jetzt, begreife ich. Es ist so leicht, Menschen zu betrügen, wenn sie am Leben bleiben wollen. Die Juden in den Massenvernichtungslagern wussten nicht, was ihnen bevorstand. Sie glaubten die Lügen von Arbeitslagern und Baderäumen. Wir waren genauso leicht zu täuschen. Die deutsche Frau [Kuhlmann] war wie ein wildes Tier. Frustriert in ihrer Persönlichkeit und auch als Frau. Aber sie war nicht so gefährlich, weil sie keine Maske trug und leicht zu durchschauen war. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, mich mit ihr zu unterhalten. Sie war eine offene Feindin.

Der Deutsche gab sich freundlich. Er verbarg seine Feindschaft. Er verstellte sich, um seine Opfer glauben zu machen, dass er es gut mit ihnen meine. Er war so freundlich, so ruhig, so leutselig. Nach der Unterhaltung mit ihm ertappte ich mich bei dem Gedanken: <Ich glaube ihm!<  Er hat es geschafft, dich zu täuschen! Wenn er befohlen hätte, in die Richtung zu marschieren, wo seine Kollegen mit Maschinenpistolen standen, um uns niederzumähen - wir wären gegangen. Weil er sich lächelnd verstellen konnte. Er ließ keine Gelegenheit aus, uns zu trösten: >Sie haben keine Schuld. Sie sind in Ordnung. Ihnen wird nichts geschehen. Regen Sie sich nicht auf. Ihre Regierung wird einem Austausch zustimmen, und Sie fahren nach Hause.<

Weil wir glauben wollten, dass er anders war als die anderen, besser und gutmütiger, glaubten wir ihm. Es ist leicht, zu glauben. Wenn die Sache anders verlaufen wäre, hätte keiner den >guten Deutschen< drängen müssen, seine Kugeln auf unsere Kinder abzufeuern und uns mit Granaten und Sprengstoff in die Luft zu jagen.

Zum ersten Mal habe ich begriffen, wie die Massenvernichtung der Juden möglich war."

 

Einige Anmerkungen zu diesem Text:

 

Die Ähnlichkeiten des Dialogs zu dem, den Hartuv berichtet, sind überdeutlich, doch werden die Äußerungen in beiden Quellen unterschiedlichen Entführungsopfern zugeschrieben. Kritisch betrachtet, bedeutet dies, dass der Dialog an sich so ähnlich wohl stattgefunden hat. Welche Geisel konkret mit Böse gesprochen hat, ist dabei relativ unerheblich.

 

Wie sehr die Parallelen zu Auschwitz die Geiseln während der Entführung belastet haben, wird sehr deutlich. Diese Folge der Entführung haben die beiden deutschen Terroristen offensichtlich kaum bis gar nicht bedacht.

 

Dass Böse in Entebbe selbst nicht mehr allzu viel zu sagen hatte, stimmt. Laut Hans Joachim Klein und anderen Quellen hat sich Wadi Haddad während der Entführung in Uganda aufgehalten und teilweise vor Ort in Entebbe die Fäden gezogen.

 

Leider hat sich die Hoffnung von Uzi Davidson immer noch nicht erfüllt und ist noch sehr weit von ihrer Erfüllung entfernt: Der Nahostkonflikt ist nicht gelöst.

 

Ist Böses hier wiedergegebenen Aussagen zu glauben? Möglicherweise hat er - wie Davidson vermutet - die Geiseln ganz gezielt getäuscht und und längst nicht alle Aussagen ernst gemeint. Wie bereits erwähnt, hatte Böse durchaus hohe soziale Kompetenzen - aber auch verbunden mit der Fähigkeit, gezielt andere Menschen in seinem Sinn zu manipulieren.

Dennoch - vielleicht nur deswegen, weil man sich zu einem gewissen Grad seinem "Forschungsobjekt" annähert und dafür Sympathien entwickelt? - ist auch keineswegs auszuschließen, dass Böse während der Entführung eine Ahnung von der Tragweite seines Handelns bekam und begann, sein Handeln zu bedauern. Hat er sich im Kern eine grundsätzliche Menschlichkeit bewahrt? Dass er zuletzt - wie nicht alle, aber manche Zeugen sich erinnern - die Möglichkeit hatte, noch Geiseln zu erschießen, dies aber bewusst nicht getan hat, ist ein kleines Indiz für diese Sichtweise.

 

Böse als Nazi, der auch in Auschwitz so hätte handeln können? Die Nationalsozialisten waren Rassisten, denen es nach ihrer Überzeugung unmöglich und verboten war, mit jüdischen Menschen auch "menschlich" umzugehen. Freundlichkeit von überzeugten Nazis gegenüber Juden gab es nicht. In dieser Hinsicht hat Uzi Davidson nicht Recht.

Dem Schluss aber, dass Böse ein besonders gefährlicher Terrorist war, ist zuzustimmen. Mit seiner "Menschlichkeit" auch während der Entführung, seiner Ruhe und Gelassenheit war er auf besonders "professionelle" Weise als Terrorist aktiv - wenn "Terrorist" ein Berufsprofil wäre. Besser und effektiver konnte man die Entführung nicht "managen". Und - wie schon erwähnt - es gibt keinen grundsätzlichen Zweifel, dass Böse im Fall des Falles die Erschießung von Geiseln zugelassen bzw. bei der Erschießung mitgemacht hätte.