RZ und RAF

Wie auch viele Mitglieder der RAF scheint sich Böse durch die Ereignisse beim Schahbesuch in Deutschland 1967 radikalisiert zu haben. In Frankfurt gehörte er der "Roten Hilfe" an, die sich als solidarisch mit der RAF verstand und deren Mitglieder sich unterschiedlich stark zugunsten der RAF engagierten: Sie suchten und stellten Wohnungen, übernahmen Botendienste, oder sie unterstützten die Terroristen der RAF zumindest in Bezug auf die Öffentlichkeit und durch Engagement für deren (legale) Befreiung. (Vgl. z.B. Klein 41f.)

Böse selbst scheint früh darüber hinausgegangen zu sein: Nach der Aussage des RAF-Kronzeugen Gerhard Müller (Vgl. Kraushaar 592f.) habe Wilfried Böse als „der kleine Dicke" (Böses wirklicher Name war Müller zunächst unbekannt) eng mit den Mitgliedern der ersten RAF-Generation zusammengearbeitet. Böse habe Batterien für RAF-Bomben beschafft, sich mit Baader, Meins und Raspe im Frankfurter Nordwesten getroffen und sei spätestens seit dem Dezember 1971 direkt in RAF-Aktion eingebunden gewesen. Er habe der RAF amerikanische Waffen geliefert [die aus dem Überfall auf die US-Kaserne 1970?], RAF-Wohnungen ausgeräumt wohl als Figur, die bei der Polizei noch nicht im Fadenkreuz stand, und auch Plastiksprengstoff besessen. Als RAF-Kurier sei er mit einem alten VW-Käfer quer durch Deutschland unterwegs gewesen. Böses Verhältnis zu Müller selbst schildert dieser als gestört, da Böse ihm gegenüber dominierend aufgetreten sei und Meinhof und Ensslin öfters Streitigkeiten zwischen den beiden schlichten mussten. Hingegen sei Böse bei den RAF-Anführern geschätzt gewesen; Ensslin habe seine Aufnahme als Voll-Mitglied gefordert. Böse allerdings sei sehr eigenständig geblieben, habe sich nicht leicht unterordnen können und somit auch nie zum engen Kern der sehr hierarchisch organisierten RAF gehört - laut Baader (von Müller wiedergegeben) habe Böse eine eigene Terrorgruppe aufbauen wollen und schon früh einen Bombenanschlag auf einen Frankfurter Hochhausrohbau verübt. K.D. Wolff sei bei einem Gespräch zwischen Böse und Müller über Plastiksprengstoff einmal dabei gewesen.

Abgesehen von Müller hat auch die ehemalige RAF-Terroristin Margit Schiller davon berichtet, sich einmal mit Böse und Kuhlmann getroffen zu haben. (Alle Informationen vgl. Kraushaar 592f.)

 

Was ist nun von Müllers Aussagen zu halten?

Bei unseren Bamberger Recherchen hatten wir keinerlei Hinweis darauf bekommen, dass Böse vom Aussehen her dicklich gewesen sei - insofern überraschte uns die Bezeichnung "kleiner Dicker" für Böse. Die "Hamsterbäckchen", die Müller Wilfried Böse attestierte, passen schon eher. Und Kraushaar führt ein Zitat von Micha Brumlik an, das die Dicklichkeit von Böse unterstreicht. (Vgl. Kraushaar 597, Anm. 80)

Waffendeals und ähnliche Unterstützungstätigkeiten für die RAF sind Böse auf jeden Fall zuzutrauen und passen sehr genau in das Bild, das wir von Böse anderweitig gewonnen haben - auch das unterstreicht die Glaubwürdigkeit von Müller.

Dass er seine Aussage allerdings am 8. Juli 1976 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart-Stammheim machte, nährte zunächst gewisse Zweifel: Müller schrieb seine Aussagen Böse nach dessen Fahndungsbild zu, das 1975 von Böse gemacht worden war und das im Juli 1976 aktuell - wegen Entebbe - durch die Medien gegangen war. Hat Müller hier einer Figur, die nur wenige Tage zuvor gestorben war und deshalb nicht mehr belangt werden konnte, allerhand „in die Schuhe geschoben"? Nein.

Denn die Archivunterlagen im Hamburger Institut für Sozialforschung, die nicht nur die direkten Gerichts-Verhandlungen von Stammheim, sondern auch die vorherigen Verhöre wiedergeben, belegen Müllers Erkennen von Böse im Verhör bereits für den 2. Mai 1976 - also vor der Entebbe-Entführung. Erstaunlich an den Verhörprotokollen ist die Detailgenauigkeit, mit der Müller von Geschehnissen berichtete, die vier Jahre vergangen waren - insgesamt aber ist seinen Böse betreffenden Aussagen zu vertrauen.

 

Nähe zu Ulrike Meinhof und Beteiligung am Olympia-Attentat in München 1972

 

Wenn es stimmt, was Müller angegeben hat, hat Böse schon spätestens 1971/72 mit der ersten RAF-Generation, also auch Ulrike Meinhof, zusammengearbeitet. Wann genau Böse sich mit Brigitte Kuhlmann angefreundet hat, ist uns noch nicht bekannt.

Was uns schon länger bekannt ist:

Brigitte Kuhlmann war es, die am 15. Juni 1972 die Wohnung vermittelt hatte, in der Ulrike Meinhof auf der Flucht vor der Polizei in Hannover Unterschlupf suchte und in der sie am folgenden Tag festgenommen wurde. Der Wohnungsinhaber hatte sein Kuhlmann gegebenes Versprechen der Diskretion gebrochen und der Polizei den entscheidenden Tipp gegeben. Unter anderem Magdalena Kopp berichtet, dass Kuhlmann sich ihre Fehleinschätzung des Wohnungsinhabers und damit ihre "Verantwortung" für die Festnahme von Ulrike Meinhof sehr zu Herzen genommen habe. (Vgl. Kopp 71)

Was wir erst durch die Verhörprotokolle aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung wissen, ist die unmittelbare Vorgeschichte:

Müller sagte aus, dass Ulrike Meinhof durch niemand anderen als Wilfried Böse nach Hannover gekommen sei. Er habe ihr einen Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft verschafft, in der auch Kuhlmann zugegen war - ob sie Mitbewohnerin der WG war, ist nicht klar. Weil Meinhof sich in dieser Wohnung nicht sicher genug fühlte, ging sie auf Kuhlmanns Angebot zum "Wohnungswechsel" ein. Nicht nur Kuhlmann, sondern auch Böse waren also in die Geschichte der Verhaftung von Ulrike Meinhof eng verwickelt und davon sehr betroffen.

Man kann daher annehmen, dass Böse und Kuhlmann von nun an noch stärker motiviert waren, Aktionen zur Gefangenenbefreiung, besonders in Bezug auf Meinhof, zu unterstützen, zu initiieren oder selbst durchzuführen. Ob vielleicht sogar ihre Partnerschaft mit der Meinhof-Verhaftung begann, ist unklar.

Kopp berichtet zudem, dass Böse und Kuhlmann schon sehr früh über gute internationale Kontakte mit den Palästinensern, den Arabern und dem Ostblock verfügten (vgl. Kopp 72) - ab welchem Zeitpunkt genau diese Aussage gilt, ist unklar.


Für die Beteiligung Böses am Olympia-Attentat 1972 in München gibt es nur einen (schwachen) direkten Beleg, nämlich die Aussage Hans Joachim Kleins: Böse habe ihm gegenüber behauptet, die Attentäter in München empfangen zu haben. (Vgl. Klein 268 und 293) Natürlich muss man hier zweifach nachfragen: Stimmt Kleins Erinnerung? Und wenn diese stimmen würde: Hat Böse hier die Wahrheit gesagt oder nur "angegeben"?

Nach unseren Rechercheerfahrungen haben sich Selbstaussagen Böses, die uns berichtet wurden, zu unserem Erstaunen immer als im Kern treffend erwiesen (Schah-Interview, Interview mit Chris Barber). Böse erscheint uns nicht als "Angeber", der die eigene Rolle ausschmückt und größer darstellt, als sie in der Wirklichkeit gewesen ist. Er war zudem unserer Einschätzung nach ein Meister der Konspiration und nicht erpicht darauf, sich durch Großsprecherei verdächtig zu machen und der Verfolgung durch die Polizei auszusetzen.

Klar ist auch, dass Böse spätestens 1975 eng mit der PFLP-SC zusammenarbeitete - die ersten Kontakte müssen also früher entstanden sein. Dass die erste  RAF-Generation mit palästinensischen Terroristen (allerdings eher der PLO nahe stehenden) Kontakt hatte, steht außer Frage - wenn Böse mit den entsprechenden RAF-Leuten zusammengearbeitet hat, dann konnte er hieran anknüpfen und wäre im Sommer 1972 einer der wenigen verbliebenen aktiven, nicht festgenommenen deutschen Terroristen gewesen, die die palästinensischen Attentäter 1972 in München noch unterstützen konnten. Wir sind keine Kenner der Forschung zum Olympia-Attentat 1972 in München, aber: Woher die Attentäter kamen, das heißt, wie sie zum Zaun des olympischen Dorfes gelangt waren, wie sie vorher nach Deutschland gekommen waren und wo sie in München Station gemacht hatten - all das sind Fragen, auf die wir bei unseren oberflächlichen Nachforschungen keinerlei Antworten erhalten haben: Bei jedem Bericht über das Attentat "fallen" die Attentäter quasi "vom Himmel" an den Zaun des Olympiageländes. Kurz: Es bleiben Fragen offen, deren Antworten durchaus auch Böse betreffen könnten.

 

Mit der Geiselnahme israelischer Sportler sollten durch das Attentat und die Geiselnahme 232 Palästinenser, ein japanischer Terrorist sowie Baader und Meinhof freigepresst werden. Dass Baader und Meinhof auf der Liste der zu Befreienden auftauchten, deutet auf eine Zusammenarbeit der Palästinenser mit deutschen Terroristen. Insgesamt starben beim Attentat und dem völlig misslungenen Befreiungsversuch elf israelische Sportler als Geiseln, alle fünf Terroristen und ein deutscher Polizist.

 

Ein Indiz für Böses Unterstützung des Attentats sind verblüffende Parallelen zwischen Äußerungen von Ulrike Meinhof über dieses Attentat und Äußerungen, die - wesentlich später - in RZ-Schriften zum selben Thema auftauchen: So lobte Meinhof das Attentat als exemplarische revolutionäre Tat, die „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch" gewesen sei. (Spiegel 35/2001, 27.8.2001, S. 161) Sie attestierte den Attentätern "Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge" (Medick, http://www.taz.de/?id=digi-artikel&ressort=hi&dig=2007/10/06/a0013&no_cache=1&src=GI, Stand 6.9.2015). Meinhof schrieb von "Israels Nazifaschismus", nannte Israels damaligen Verteidigungsminister Mosche Dajan den "Himmler Israels" und warf der israelischen Regierung vor, sie habe ihre Sportler "verheizt wie die Nazis die Juden". (Ebd.)

Die RZ ("Früchte des Zorns") schrieb 1975 - recht unvermittelt und zusammenhanglos drei Jahre nach dem Geschehen: "Seit München 1972, wo die Palästinenser klar gemacht haben, dass die Bourgeoisie ihre Spiele nicht als Kraft durch Freude verkaufen kann, als die gesamte Presse auf die Lügen und den Dreck der Bullen eingeflippt sind, als sich die freie Presse als Bullen-Presse erwiesen hat ... " (www.freilassung.de/div/texte/down/zorn, S. 63, Stand 6.9.2015)

Man kann davon ausgehen, dass Böse an den RZ-Texten maßgeblich beteiligt war. Was um alles in der Welt haben solche Worte, die dem Tenor von Meinhofs Äußerungen zumindest teilweise entsprechen, im Zusammenhang des Jahres 1975 verloren? Eine Erklärung wäre es, dass Böse (und andere RZ-ler, z.B. Weinrich?) tatsächlich an München 1972 beteiligt waren. Zuzutrauen ist dies beiden.