Gaiganz

In einem oberfränkischen Dorf nahe Forchheim siedelte sich um 1970 eine linke Druckerei an - die Druckerei "Gegendruck". Sie wurde von Erlanger Studenten gegründet, die schon seit 1968 in Erlangen einen Polit-Buchladen unterhielten.

Eine kleine, zeittypische Anekdote, die ein ehemaliger Erlanger Student erzählt: Der Polit-Buchladen sei immer wieder einmal von der Polizei aufgesucht und überprüft worden. Eine ältere Betreiberin eines benachbarten Kiosks war aber ebenso hilfsbereit wie weitere Anwohner, die den Buchladen rechtzeitig vor dem ungebetenen "Besuch" warnten: Die Kioskbetreiberin nahm dann immer schnell genug die "heiße" Ware des Buchladens in ihren Gewahrsam, so dass die Polizisten nie einen entscheidenden Fund machten.

Federführend in Gaiganz (und auch in Erlangen) war Gerd Schnepel, der neben der Druckerei auch einen Öko-Bauernhof betrieb. Er wurde nach der Trennung des Paares Wilfried Böse/Brigitte Kuhlmann der neue Partner von Kuhlmann, war aktives Mitglied der RZ und mischt heute noch bei Internet-Diskussionen zum Thema RZ mit - so ist zu vermuten, dass auch der recht täter-freundliche Eintrag bei Wikipedia zu Wilfried Böse von ihm oder Freunden beeinflusst wurde (Stand 30.09.2015)

 

Gaiganz und die Frankfurter linke Szene

 

Ungeachtet der weit gefächerten Fraktionierung nahm die Druckerei "Gegendruck" Aufträge für verschiedenste linke Gruppen an. So druckte man auch eine Zeitschrift der "Sponti"-Vorgängergruppe, die RK-Betriebszeitung „wir wollen alles“, für die längere Zeit Joschka Fischer verantwortlich war, in Gaiganz. Fischer kam deswegen häufiger nach Gaiganz und hatte auch über den Buchhandel Kontakte zu Johannes Weinrich. (Vgl. Siemens 217f., Kopp 72) Ob Böse den Kontakt der Frankfurter linken Szene nach Oberfranken vermittelt hatte, ist unklar, aber nicht unwahrscheinlich: Seinen Eltern war der Ortsname "Gaiganz" jedenfalls ein so geläufiger Begriff, dass man auf eine häufige Anwesenheit und enge Verbindung Böses zu diesem Dorf schließen kann. Das abgelegene Gaiganz eignete sich vorzüglich als Rückzugsort für verdächtige Terroristen - einem Gerücht nach soll sich sogar Carlos dort länger aufgehalten haben. Einen belastbaren Beleg dafür gibt es aber nicht.

 

Gaiganz und die RZ

 

Nach der ersten Passfälschung zugunsten eines US-Armee-Deserteurs (Kopp 58) arbeiteten sich Kopp und andere gezielt in die Fälschung von Pässen und in die Reproduktion von Stempeln für Passfälschungen ein. (Kopp 63f.)
Nach ihrer Trennung von Michel Leiner hielt sich Kopp nicht nur längere Zeit mit ihrer Tochter in Gaiganz auf, sondern leistete - jetzt bereits klar im Auftrag der RZ - ein „Praktikum" bei einer ETA-Druckerei ab und wurde damit die Hauptverantwortliche für die Herstellung von Stempeln und Papieren bei der RZ. (Kopp 70f.) Pässe stahl die RZ wohl gern unter den Frankfurter Linken
(Vgl. Siemens 310) und "frisierte" sie dann passend um. So wurde Böse im Sommer 1975 in Paris als "Axel Klaudius" verhaftet - ein Mitglied der linken Frankfurter Szene. Böse gab vor, den Pass von Carlos bekommen zu haben - tatsächlich gehörte das Papier wohl zu den eigenen RZ-Beständen.

Man fälschte in Gaiganz aber nicht nur Pässe, sondern auch Flugtickets: Diese dienten der PFLP-SC als sehr erfolgreiches Finanzierungsmittel. Hans Joachim Klein berichtet von gemeinsamen Reisen mit Böse zu Carlos, um über diese gefälschten Flugtickets zu verhandeln - allerdings konnte Klein den auf Englisch geführten Verhandlungen nicht konkret folgen, da er der Sprache nicht mächtig war. (Vgl. Klein 47 und 191)

Wahrscheinlich war Gaiganz ein beliebter geheimer Treffpunkt der RZ für Besprechungen, aber auch für Waffenschauen und Schießübungen im Wald. Klein berichtet von solchen Erlebnissen, ohne den Namen "Gaiganz" zu erwähnen - seine Beschreibung passt aber gut zu dem fränkischen Dorf. (Vgl. Klein 171, 191, aber auch Siemens 308)

Im Jahr 1975 erschien in Verlag und Druckerei Gegendruck in Gaiganz das Buch „´ Holger, der Kampf geht weiter!' Dokumente und Beiträge zum Konzept Stadtguerilla": Der Titel zitiert den Ausruf Rudi Dutschkes beim Begräbnis des RAF-Terroristen Holger Meins, der Ende 1974 wegen eines Hungerstreiks im Gefängnis gestorben war. Die Widmung des Buches „Für Steve" galt Johannes Weinrich, der gerade wegen des Orly-Attentats inhaftiert war — sein Deckname innerhalb der RZ war „Steve". In diesem Buch finden sich viele und wichtige Beiträge zum theoretischen Selbstverständnis der RZ — man kann annehmen, dass Böse selbst einige der Texte verfasst hat. Lesbar - erst recht für heutige Leser — ist das Buch aufgrund seiner ideologisch verquasten Sprache und Inhalte kaum.

So gut Gaiganz als Rückzugsort geeignet war: Es stand doch unter polizeilicher Aufmerksamkeit. Im Jahr 1975 kam es zu einer Durchsuchung der Druckerei - allerdings ausgerechnet wegen eines Buches, das ein Aussteiger aus der "Bewegung 2. Juni", Bommi Baumann, über seinen Ausstieg verfasst hatte - ob dieser Grund die Durchsuchung rechtfertigen konnte, wurde vom "Spiegel" kritisch beleuchtet. (Spiegel 48/75, 1.12.1975, S. 88f.) Dass die Polizei weder Baumanns Buch fand noch darauf aufmerksam wurde, dass sich hoch virulente Terroristen häufig vor Ort aufhielten, ist im Nachhinein betrachtet bizarr.

Wohl nach Entebbe kam es wiederum zu einer umfangreichen Durchsuchungsaktion in Gaiganz - nach der Erinnerung eines Dorfbewohners wurde quasi das ganze Dorf abgesperrt und die Druckerei von einer ganzen Polizei-Armada auf den Kopf gestellt. Die Druckerei wurde wohl in diesem Zusammenhang von ihren Betreibern aufgegeben.